Spiegelleben: Löscht Synthetische Biologie das Leben aus?

Eine Technologie, die noch nicht existiert, könnte zur größten Bedrohung der Menschheit werden – so lautete die beispiellose Warnung einer internationalen Koalition von 38 führenden Wissenschaftlern, darunter zwei Nobelpreisträger. Im Dezember 2024 veröffentlichten sie in der renommierten Fachzeitschrift Science eine technische Bewertung, die vor »global katastrophalen« Konsequenzen warnt, sollten sogenannte Spiegelorganismen entwickelt werden.

»Wir sollten uns entscheiden, Spiegelleben [Mirror Life] nicht zu erschaffen und Gesetze verabschieden, um sicherzustellen, dass es niemand kann«, schreibt in einem spekulativen, aber erschreckenden Artikel für die Financial Times Professor John Glass. Er ist Leiter der JCVI Synthetic Biology Group (La Jolla, Kalifornien) und wirkte dabei mit, die erste lebende Zelle mit einem synthetischen Genom zu erschaffen. »Die Frage ist nicht, ob wir in der Lage sind, diese Bedrohung zu verhindern – sondern, ob wir handeln werden, solange wir noch können.«

Spiegelleben bezeichnet hypothetische synthetische Organismen, deren molekulare Struktur die Spiegelbilder natürlicher biologischer Moleküle darstellen. Diese Bezeichnung bezieht sich auf das Konzept der molekularen Chiralität, einer fundamentalen Eigenschaft aller bekannten Lebensformen. Alle Organismen auf der Erde zeigen eine bemerkenswerte Uniformität: DNS-Doppelhelices sind rechtshändig und drehen sich nach rechts, während Proteine linkshändig sind. Spiegelleben würde diese fundamentale Eigenschaft umkehren – mit linkshändiger DNS und rechtshändigen Proteinen.

Diese Homochiralie ist universell für alle bekannten Lebensformen. Wenn man mit der rechten Hand einen Daumen nach oben zeigt, repräsentiert der Daumen die vertikale Achse der DNS-Helix, während die Finger die Spirale darstellen. Bei Proteinen, den Bausteinen der Zellen, verhält es sich genau umgekehrt. Was passiert aber, wenn Menschen einen synthetischen Organismus entwickeln, bei dem die DNS nach links dreht, während die Proteine nach rechts drehen?

Das Beunruhigende ist, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was geschehen würde – aber viele Biologen befürchten das Schlimmste. Die im Dezember veröffentlichte Warnung besagt, dass die Konsequenzen von Spiegelleben »global katastrophal« sein könnten und möglicherweise sogar alles Leben, einschließlich der Menschen, auslöschen würden, falls sich die neuen Organismen als pathogen für existierendes Leben erweisen.

Im Juni dieses Jahres bekräftigten mehr als 150 Wissenschaftler und Ethiker diese Bedenken auf einer Konferenz am Institut Pasteur in Paris, um die Risiken der Entwicklung dieser Technologie zu bewerten. »Es war etwas, was ich in meiner wissenschaftlichen Laufbahn nie zu sehen erwartet hätte«, schrieb Glass. Er merkte an, dass die Alfred P. Sloan Foundation, eine einflussreiche gemeinnützige Organisation, die wissenschaftliche Forschung finanziert, unmissverständlich erklärte, keine Bemühungen zur Erschaffung von Spiegelorganismen zu unterstützen.

Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass die Technologie mindestens ein Jahrzehnt, vielleicht sogar noch drei Jahrzehnte, entfernt ist. Aber ihr Gefühl der Dringlichkeit, sie zu verhindern, ist spürbar. »Sobald es möglich ist, eine Spiegelzelle zu bauen, wäre es vergleichsweise einfach, viele weitere Arten von Spiegelbakterien zu entwickeln – die einfachste Form des Spiegellebens«, schrieb Glass. »Wenn dies erreicht wird und sich die Büchse der Pandora öffnet, könnte es außergewöhnliche Risiken bergen.«

Das größte identifizierte Risiko liegt in der potenziellen Unfähigkeit des menschlichen Immunsystems, auf Spiegelorganismen zu reagieren. »Nach unserem besten Wissen produzieren unsere Immunsysteme sehr schwache Antikörperreaktionen gegen Spiegelmoleküle, falls überhaupt«, erklärte Glass. »Bereits eine einzige Immunschwäche kann dazu führen, dass ein Patient an überwältigenden bakteriellen Infektionen stirbt; eine Infektion durch Spiegelbakterien hätte die Auswirkung von vielen Immunschwächen auf einmal.«

Das Immunsystem erkennt Pathogene durch spezifische molekulare Strukturen, die bei gespiegelten Organismen möglicherweise nicht erkennbar sind. T-Zellen könnten Spiegelpathogene nicht erkennen, die Antikörperproduktion könnte unzureichend sein, und angeborene Immunmechanismen könnten versagen, was zur Entstehung unbehandelbarer Infektionen führen würde.

Darüber hinaus könnten Spiegelbakterien der Prädation (Räuber-Beute-Beziehung) durch Organismen widerstehen, die normalerweise ihre Population in Schach halten, wodurch sie unkontrolliert in Ökosystemen wuchern könnten. Bakteriophagen und andere mikrobielle Prädatoren (Fressräuber) könnten Spiegelbakterien nicht angreifen, und ohne natürliche Kontrollen könnten sich Spiegelorganismen exponentiell ausbreiten. »Kontaminierte Gebiete könnten irreversibel unbewohnbar werden und unsere Landwirtschaft sowie die Natur insgesamt gefährden«, ist Glass überzeugt. »Riesige Zahlen von Menschen, Tieren und Pflanzen könnten ausgelöscht werden, oder aussterben.«

Wenn Spiegelleben so gefährlich ist, weshalb wird dann daran geforscht? Weil das medizinische Versprechen der Technologie fast ihrem Zerstörungspotenzial entspricht. Bereits entstehende Formen von Spiegelproteinen könnten zur Herstellung wirksamerer Medikamente verwendet werden, die im Körper länger überleben. Spiegelprotein-Medikamente hätten eine längere Halbwertszeit im Körper, wären resistent gegen natürlichen enzymatischen Abbau und böten das Potenzial für neue Wirkstoffklassen mit verbesserter Bioverfügbarkeit.

Das kalifornische Biotechnologie-Unternehmen ›Aizen Therapeutics‹ (San Diego) entwickelt bereits Spiegelprotein-basierte Therapeutika, und erste klinische Studien mit gespiegelten Peptiden laufen. Die Forschung an Spiegel-DNS-Aptameren für Diagnostik zeigt ebenfalls vielversprechende Ergebnisse. In der Biotechnologie könnten resistente Biokatalysatoren, stabile Produktionsorganismen und neue Biomaterialien entwickelt werden.

Dennoch sagen alle potenziellen Gesetze zur Regulierung dieses Forschungsgebiets, dass ein Gleichgewicht zwischen der absoluten Beschränkung der Entwicklung von Spiegelleben und der Ermöglichung des Gedeihens der Synthetischen Biologie gefunden werden muss. »Dies wird eine gewissenhafte Entscheidung darüber erfordern, welche Forschung fortgesetzt werden kann, und was beendet werden sollte«, schrieb Glass. Glücklicherweise beobachtet er: »Wir haben diese Gefahren weit vor dem Umkehrgrenzpunkt (Point of no Return) erkannt.«

John Glass steht im Zentrum der aktuellen Debatte um Spiegelleben. Als Leiter der Synthetic Biology Group am J. Craig Venter Institute und Mitschöpfer der ersten Zelle mit vollsynthetischem Genom bringt Glass einzigartige Expertise mit. Seine Warnung in der Financial Times markiert einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Risiken von Spiegelleben. Seine Forschung konzentriert sich auf minimale Genome und synthetische Zellen, Mycoplasma-basierte Systeme, Genomtransplantation und Anwendungen der Synthetischen Biologie.

Spiegelleben bleibt derzeit hypothetisch, doch die wissenschaftlichen Grundlagen werden kontinuierlich ausgebaut. Forscher haben bereits Erfolge bei der Synthese einzelner gespiegelter Komponenten erzielt. Spiegelproteine, also synthetische rechtshändige Proteine, wurden erfolgreich hergestellt und zeigen interessante pharmazeutische Eigenschaften. Kurze Abschnitte linkshändiger DNS wurden synthetisiert, und erste Versuche zur Erstellung gespiegelter enzymatischer Aktivitäten sind unternommen worden.

Die Erzeugung vollständiger Spiegelorganismen steht jedoch vor erheblichen technischen Herausforderungen. Tausende von gespiegelten Enzymen müssen koordiniert funktionieren, komplette gespiegelte Stoffwechselwege müssen entwickelt werden, und die gespiegelte DNS-Replikations- und Proteinbiosynthese-Maschinerie sowie gespiegelte Lipide und Membranproteine müssen geschaffen werden. Experten schätzen, dass die Technologie zur Erstellung vollständiger Spiegelbakterien noch zehn bis 30 Jahre entfernt ist.

Die Forschung in Sachen Spiegelleben ist global verteilt, mit dem J. Craig Venter Institute, der Stanford University und verschiedenen NIH-Instituten in den USA, dem Institut Pasteur in Frankreich und Max-Planck-Instituten in Deutschland sowie begrenzter öffentlicher Forschung in Japan und China. Die internationale Forschungslandschaft zeigt bereits Anzeichen einer koordinierten Antwort auf die wahrgenommenen Risiken. Ein mehrstufiger Ansatz wird vorgeschlagen, bei dem Grundlagenforschung an gespiegelten Molekülen und Komponenten erlaubt wird, Systemforschung strenge Überwachung für komplexere Systeme beinhaltet, und die Organismus-Entwicklung vollständig verboten oder extrem eingeschränkt wird.

Die Debatte um das Thema Spiegelleben folgt historischen Mustern wissenschaftlicher Selbstregulierung, einschließlich der Asilomar-Konferenz von 1975 zur Regulierung der rekombinanten DNS-Technologie, dem Moratorium für Gain-of-Function-Forschung und der internationalen Koordination bei Genom-Editing-Regulierung. Diese Präzedenzfälle sind Lehrstücke für den Umgang mit »Emerging technologies« mit transformativem Potenzial.

Die Spiegelleben-Debatte wirft grundlegende Fragen zum Vorsorgeprinzip in der wissenschaftlichen Forschung auf. Soll Forschung gestoppt werden, bevor Schäden nachweisbar sind? Wie werden potenzielle Vorteile gegen hypothetische Risiken abgewogen? Wer hat die Autorität, wissenschaftliche Forschung zu beschränken? Die Technologien zur Herstellung von Spiegelleben könnten bestehende globale Ungleichheiten verstärken durch den ungleichen Zugang zu fortgeschrittenen Therapeutika und die Konzentration von Forschungskapazitäten in entwickelten Ländern.

Die Balance zwischen wissenschaftlicher Forschungsfreiheit und öffentlicher Sicherheit steht im Zentrum der Debatte. Das Recht auf wissenschaftliche Forschung muss gegen die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler und demokratische Kontrolle über wissenschaftliche Prioritäten abgewogen werden.

In den kommenden Jahren werden sich mehrere Trends abzeichnen. Kurzfristig, bis etwa 2030, wird die Fortsetzung der Grundlagenforschung an gespiegelten Molekülen erwartet, zusammen mit der Entwicklung verbesserter Synthesemethoden und ersten therapeutischen Anwendungen von Spiegelproteinen. Regulatorisch werden sich internationale Überwachungsmechanismen etablieren, spezifische Biosicherheitsstandards entwickelt und die Integration in bestehende Dual-Use-Research-Frameworks erfolgen.

Mittelfristig, zwischen 2030 und 2040, könnten technologische Meilensteine erreicht werden, einschließlich der ersten komplexen Spiegelbiosysteme, ohne dass vollständige Organismen geschaffen werden, fortgeschrittene Spiegeltherapeutika in klinischen Studien und industrielle Anwendungen gespiegelter Enzyme. Gesellschaftlich werden sich etablierte internationale Regulierungsrahmen entwickeln, öffentliche Bildung und Bewusstseinsbildung stattfinden und Ethik-Frameworks für Synthetische Biologie entstehen.

Langfristig, ab 2040, sind verschiedene Szenarien denkbar. Ein optimistisches Szenario beinhaltet die kontrollierte Entwicklung nutzbringender Spiegeltechnologien, erfolgreiche Risikominderung durch internationale Kooperation und therapeutische Durchbrüche bei bisher unheilbaren Krankheiten. Ein pessimistisches Szenario zeichnet die unkontrollierte Entwicklung von Spiegelorganismen, eine Biosicherheitskrise mit globalen Auswirkungen und irreversiblen Umweltschäden. Das wahrscheinlichste Szenario beinhaltet eine schrittweise, hochregulierte Entwicklung mit begrenzten Anwendungen in kontrollierten Umgebungen unter kontinuierlicher Risiko-Nutzen-Neubewertung.

Die ganze Debatte stellt einen Präzedenzfall in der Geschichte der wissenschaftlichen Selbstregulierung dar. Zum ersten Mal in der modernen Wissenschaftsgeschichte haben Forscher proaktiv vor den Risiken einer noch nicht existenten Technologie gewarnt und deren Entwicklung in Frage gestellt, bevor sie technisch machbar ist. Die Wissenschaftsgemeinschaft hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, potenzielle Risiken zu antizipieren und proaktiv zu handeln.

Da die Risiken globaler Natur sind, erfordern sie koordinierte internationale Antworten. Der Weg vorwärts erfordert eine sorgfältige Balance zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und Risikominimierung. Neue Regulierungsansätze sind erforderlich, die der besonderen Natur synthetischer biologischer Systeme gerecht werden.

Die nächsten Jahre werden entscheidend sein für die Entwicklung eines nachhaltigen Umgangs mit den Technologien zur Erzeugung von Spiegelleben. Bis 2030 sollten internationale Überwachungsmechanismen etabliert, die Grundlagenforschung unter strengen Sicherheitsauflagen fortgesetzt und öffentliche Bildung über Spiegelleben und seine Implikationen vorangetrieben werden. Zwischen 2030 und 2040 müssen spezifische Regulierungsrahmen entwickelt, internationale Verträge zur Spiegelleben-Kontrolle geschlossen und Investitionen in Sicherheitsforschung und Risikominderung getätigt werden. Nach 2040 ist eine kontinuierliche Neubewertung des Risiko-Nutzen-Verhältnisses notwendig, zusammen mit der Anpassung der Governance-Strukturen an technologische Entwicklungen und der Integration der praktischen Erfahrungen in zukünftige Technologiebewertungen.

Die Lehren aus dieser Debatte werden weit über die Synthetische Biologie hinausreichen und die Art und Weise prägen, wie die Gesellschaft mit zukünftigen transformativen Technologien umgehen will und umgehen soll.

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