Die unaufhaltsame Walze des Chaos
Die Zukunft ist offen, heißt es allgemein. Jedenfalls noch einen Spalt breit. Es herrscht die Ruhe vor dem Sturm. Doch das Wetterleuchten am Horizont und das ferne Donnergrollen eines heranrasenden Orkans sind schon deutlich zu vernehmen. Es ist wie bei einer Unwetterwarnung: Wer die Zeichen am Horizont nicht erkennt, leugnet oder arrogant abtut, wird am Ende hinweggefegt …
A. Die Kettenreaktion hat begonnen
Für den chinesisch-kanadischen Pädagogen und Politikberater Prof. Xueqin Jiang¹ steht fest: Die Welt befindet sich nicht mehr in einer Phase abstrakter Krisen, sondern in einem konkreten Eskalationsgeschehen, das historisch typisch für den Weg in einen Großkrieg ist. Entscheidend sei nicht ein einzelner Auslöser, sondern das Zusammenwirken mehrerer Fronten, die sich gegenseitig verstärken. »Kriege beginnen fast immer als begrenzte Konflikte«, warnt Jiang, »doch sie entziehen sich früher oder später jeder Kontrolle«.
Das Ende der regelbasierten Ordnung
Als ersten Beleg nennt Jiang die neue US-amerikanische ›Nationale Sicherheitsstrategie‹. Diese markiere einen offenen Bruch mit der Idee einer multilateralen, regelbasierten Weltordnung. Die USA erklären darin unmissverständlich, dass diese Ordnung »verschwunden« ist und künftig allein das nationale Eigeninteresse zählt.
Im Zentrum steht die Wiederbelebung der Monroe-Doktrin: Die westliche Hemisphäre wird erneut als exklusives amerikanisches Einflussgebiet definiert. Chinas wachsende wirtschaftliche Präsenz in Südamerika – Infrastruktur, Handel, Investitionen – wird nicht als Entwicklungschance, sondern als strategische Bedrohung betrachtet. Die Eskalation um Venezuela, die Beschlagnahmung von Öltankern und die massive US-Marinepräsenz in der Karibik sind Ausdruck dieser neuen Linie.
»Im Rahmen der Durchsetzung ihrer Monroe-Doktrin geraten die USA nun in Konflikt mit ganz Südamerika«, so Jiang. Die betroffenen Staaten sehen ihre Souveränität verletzt – ein klassisches Eskalationsmuster.
Ukraine: Ein Krieg, der nicht enden darf
Auch den Ukraine-Krieg deutet Jiang nicht primär militärisch, sondern systemisch. Aus seiner Sicht ist der Konflikt faktisch entschieden: Die Ukraine ist wirtschaftlich, demografisch und moralisch erschöpft. Dennoch drängen europäische Staaten auf eine Fortsetzung – nicht aus Hoffnung auf einen Sieg, sondern aus strategischer Angst.
Europa fürchte, Russland könnte im Falle eines Friedens seine Gewinne konsolidieren und langfristig die europäische Vorherrschaft infrage stellen. Daher wird der Krieg künstlich verlängert, etwa durch milliardenschwere Kredite. »Europa weiß, dass es irgendwann selbst in diesen Krieg eintreten muss«, sagt Jiang – ein gefährlicher Selbstbetrug, gespeist aus der Illusion, die Eskalation kontrollieren zu können.
Nahost: Der Iran als geopolitischer Drehpunkt
Besonders explosiv sei die Lage auch im Nahen Osten. Jiang beschreibt den Iran als einen Schlüsselstaat des entstehenden eurasischen Handelssystems. Alle großen kontinentalen Korridore – Chinas Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative), Russlands Nord-Süd-Route, europäische Handelsachsen – liefen oder laufen über iranisches Territorium.
Genau deshalb, so Jiang, streben die USA einen Regimewechsel in Teheran an. Ein Bündnis aus China, Russland, dem Iran und perspektivisch Indien wäre der »Albtraum des angloamerikanischen Imperiums«. Israel habe in diesem Kontext die Funktion eines militärischen Vorpostens. Eine Eskalation mit dem Iran sei deshalb nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich.
Die Folgen wären global: Eine Schließung der Straße von Hormus würde Asien, Europa und die Weltwirtschaft erschüttern – ein klassischer Dominoeffekt.
Historische Parallelen: Deutschland vor 1914, Russland und China heute
Jiang argumentiert stark historisch. Er zieht Parallelen zwischen dem Aufstieg Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg und der heutigen Lage Russlands und Chinas. Damals wie heute habe eine etablierte Seemacht (damals das Vereinigte Königreich, heute die Vereinigten Staaten) versucht, aufstrebende kontinentale Mächte einzudämmen, statt sie in eine neue Sicherheitsarchitektur einzubinden. »Ein System, das einem großen Akteur keinen Platz am Tisch gibt, produziert keinen Frieden, sondern Krieg«, warnt Jiang mit Blick auf Russland. Die Dämonisierung Moskaus als das rein »Böse« verhindere jede nüchterne Analyse – genauso wie einst Deutschland nach dem Versailler Vertrag.
Imperien im Niedergang – und die Flucht nach außen
Ein zentrales Motiv bei Jiang ist der innere Verfall westlicher Gesellschaften. Er beruft sich auf Oswald Spengler und beschreibt typische Symptome eines sterbenden Imperiums: Landflucht und Verstädterung, demografischer Kollaps, extreme Ungleichheit, kulturelle Dekadenz, politische Angstkultur und Verlust der gesellschaftlichen Vitalität.
»Ein Imperium, das seinen Niedergang nicht akzeptieren kann, greift zur Gewalt«, sagt Jiang. Krieg werde dann zum Mittel, innere Widersprüche nach außen zu verlagern. Stellvertreterkriege seien dabei besonders attraktiv, weil sie den eigenen Blutzoll minimieren.
Kein Zurück mehr
Am Ende zeichnet Jiang ein düsteres Fazit. Die Vorstellung, man könne nach einer Eskalation einfach zur alten Ordnung zurückkehren, sei eine Illusion. Die US-Hegemonie sei strukturell vorbei – doch das Imperium weigere sich, dies anzuerkennen.
»Amerika wird sein Imperium bis zum letzten Atemzug verteidigen«, vermutet Jiang. Nicht mit einem Rückzug, sondern mit globaler Konfrontation. Ein langsames Verlöschen sei möglich – wahrscheinlicher jedoch ein »großer Knall«. Der Dritte Weltkrieg, so seine Warnung, müsse nicht offiziell erklärt werden. Er könne sich als Kettenreaktion regionaler Konflikte entfalten – genau so, wie es die Geschichte bereits zweimal gezeigt hat.
B. Ein globales System unter Stress
An diesem Punkt nimmt Lawrence Wilkerson den Faden auf und spinnt ihn weiter. Der pensionierte Oberst der US-Armee und ehemalige Stabschef des US-Außenministers Colin Powell (2001-2005) beschreibt eine sich zuspitzende Lage der Vereinigten Staaten, die weniger durch einzelne politische Fehlentscheidungen als durch strukturelle wirtschaftliche Entwicklungen geprägt sei. Seine Einschätzungen fügen sich in eine breitere Debatte ein, die seit einiger Zeit von Ökonomen, Finanzanalysten und Geopolitikern geführt wird: Die Stabilität des globalen Finanzsystems, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs existiert, gerät zunehmend unter Druck. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob die Vereinigten Staaten ihre Rolle als ökonomischer und finanzieller Anker der Weltwirtschaft langfristig aufrechterhalten können.
Staatsfinanzen und Verschuldungsdynamik
Ein zentraler Ausgangspunkt dieser Diskussion ist die rapide steigende Staatsverschuldung der USA. Innerhalb kurzer Zeiträume müssen erhebliche neue Kreditvolumina aufgenommen werden, um laufende Verpflichtungen zu bedienen und Zahlungsausfälle zu vermeiden. Diese Situation ist nicht neu, erreicht jedoch eine Größenordnung, die zunehmend Zweifel an der Tragfähigkeit des Systems aufkommen lässt. Denn inzwischen liegt die aktuelle US-Staatsverschuldung bei über 36 Billionen US-Dollar.
Hinzu kommt, dass sich das internationale Umfeld verändert hat. Länder, die in der Vergangenheit einen großen Teil der US-Staatsanleihen aufnahmen, stehen selbst unter fiskalischem Druck oder verfolgen inzwischen eine bewusst diversifizierte Finanzstrategie. Damit verengt sich der Kreis potenzieller Kapitalgeber. Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von wenigen großen Akteuren, die sowohl über ausreichende Liquidität als auch über ein strategisches Interesse an globaler Stabilität verfügen.
Der Bedeutungsverlust des Dollar-Systems
Eng mit der Schuldenproblematik verknüpft ist die Rolle des US-Dollars als dominierende Leit- und Handelswährung. Jahrzehntelang bildete der Umstand, dass zentrale Rohstoffe – insbesondere Öl – überwiegend in Dollar gehandelt wurden, eine wesentliche Stütze für die Nachfrage nach US-Staatsanleihen. Diese Struktur beginnt sich jedoch schrittweise zu verändern.
Immer mehr internationale Handelsgeschäfte werden in alternativen Währungen abgewickelt – in Renminbi, Rupien, Rubel oder regionalen Währungen des globalen Südens. Diese Entwicklung ist kein abrupter Bruch, sondern ein gradueller Prozess, der jedoch langfristig erhebliche Auswirkungen haben kann. Sinkt die strukturelle Nachfrage nach US-Dollar, verteuert sich die Refinanzierung amerikanischer Schulden, während gleichzeitig die geldpolitischen Spielräume enger werden.
In diesem Kontext werden auch außenpolitische Maßnahmen, etwa Eingriffe in Lieferketten oder der Zugriff auf physische Ressourcen, von Beobachtern zunehmend als wirtschaftlich motivierte Sicherungsversuche interpretiert.
Geopolitik im Zeichen ökonomischer Zwänge
Vor diesem Hintergrund gewinnen internationale Konflikte eine neue Bedeutung. Auseinandersetzungen wie der Krieg in der Ukraine oder Spannungen im Nahen Osten sind nicht isoliert zu betrachten, sondern stehen in einem größeren Zusammenhang von wirtschaftlichen Interessen, Energieversorgung und Finanzstabilität. Sanktionen, Handelsbeschränkungen und eingefrorene Vermögenswerte sind längst zu Instrumenten ökonomischer Machtausübung geworden.
Gleichzeitig wächst die Erkenntnis, dass diese Instrumente Nebenwirkungen erzeugen. Sie beschleunigen die Suche nach Alternativen zum bestehenden Finanzsystem und fördern neue Formen wirtschaftlicher Kooperation jenseits westlich dominierter Strukturen. Staaten des globalen Südens, aber auch große Volkswirtschaften wie China und Indien, reagieren zunehmend mit eigenen Zahlungssystemen, Handelsabkommen und Finanzarchitekturen.
Wie alles mit allem zusammenhängt: Kapitalmärkte als Frühindikatoren
Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang den globalen Aktienmärkten. Diese haben in den vergangenen Jahren trotz geopolitischer Krisen und hoher Inflation bemerkenswerte Bewertungen erreicht. Kritiker sehen darin Anzeichen einer Überbewertung, getragen von billigem Geld, expansiver Geldpolitik und der Erwartung dauerhaften Wachstums.
Doch jetzt steht die Wirtschaft vor einem umfassenden Einbruch: Die Immobilien- und Aktienmärkte sind überbewertet, die Zinsen dürften explodieren und die Energiepreise drastisch steigen. Der »American Way of Life«, die amerikanische Lebensweise, die als hedonistisch und verschwenderisch gilt, ist unter diesen Bedingungen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Insbesondere der Technologiesektor – und hier vor allem junge Unternehmen im Bereich Künstliche Intelligenz, Biotechnologie oder erneuerbare Energien – ist stark von kontinuierlichem Kapitalzufluss abhängig. Viele dieser Firmen erwirtschaften noch keine stabilen Gewinne, sondern finanzieren Forschung, Infrastruktur und Personal über Risikokapital und Börsenbewertungen.
Kommt es zu einem abrupten Kursverfall, trocknen diese Finanzierungsquellen schnell aus. Investoren ziehen sich zurück, Bewertungen brechen ein, geplante Börsengänge werden verschoben oder abgesagt. Für KI-Start-ups könnte dies bedeuten, dass Entwicklungsprojekte eingestellt, Personal abgebaut oder Unternehmen ganz aufgegeben werden müssen. Innovationszyklen würden sich verlangsamen, technologische Fortschritte verzögern sich, und ganze Ökosysteme könnten destabilisiert werden.
Rückwirkungen auf Realwirtschaft und Beschäftigung
Die Auswirkungen eines solchen Szenarios beschränken sich nicht allein auf den Finanzsektor. Der Technologiesektor ist in vielen Volkswirtschaften zu einem zentralen Beschäftigungs- und Wachstumsmotor geworden. Ein Rückgang der Investitionen hätte unmittelbare Effekte auf Arbeitsmärkte, Zulieferer, Immobilienmärkte und regionale Wirtschaftsstrukturen – insbesondere in den Technologiezentren.
Darüber hinaus sind viele Pensionsfonds, Versicherungen und Sparmodelle direkt oder indirekt an den Aktienmärkten beteiligt. Ein breiter Marktverfall würde somit auch langfristige Altersvorsorge und institutionelle Stabilität unter Druck setzen.
Internationale Machtverschiebungen
Parallel zu diesen wirtschaftlichen Risiken vollzieht sich eine geopolitische Neuordnung. Die Vorstellung einer klaren unipolaren Weltordnung verliert an Plausibilität. Stattdessen entstehen mehrere Machtzentren, die wirtschaftlich, technologisch und politisch zunehmend eigenständig agieren.
In diesem Kontext wird China häufig als zentraler Akteur genannt, nicht zuletzt aufgrund seiner finanziellen Reserven und seiner Bedeutung für globale Lieferketten. Gleichzeitig besteht dort kein offensichtliches Interesse an einem ungeordneten Zusammenbruch westlicher Volkswirtschaften. Ein solcher würde das gesamte internationale System destabilisieren und auch exportabhängige Ökonomien massiv treffen.
Stattdessen deutet vieles auf den Versuch hin, bestehende Strukturen schrittweise zu reformieren oder durch parallele Systeme zu ergänzen. Diese Entwicklung verläuft jedoch nicht konfliktfrei und ist mit erheblichen politischen Spannungen verbunden.
Politische Entscheidungsrisiken
Ein zusätzliches Unsicherheitsmoment liegt in der politischen Reaktion auf den ökonomischen Druck. Für die Zukunft der USA scheinen zwei grundlegende Szenarien denkbar.
Im ersten versucht Washington, seine imperiale Rolle mit aller Kraft zu verteidigen. Dies dürfte zu Niederlagen an mehreren Fronten führen, zu Rückzügen und letztlich zu einem chaotischen Zusammenbruch – wirtschaftlich, politisch und möglicherweise auch militärisch.
Im zweiten Szenario erkennt die amerikanische Führung die Zeichen der Zeit und geht einen kontrollierten Rückbau des Imperiums an. Dies würde bedeuten, sich von hegemonialen Ansprüchen zu lösen und zu einer »normalen Republik« zurückzukehren, die partnerschaftlich mit anderen Großmächten kooperiert. Russland und China dürften einen solchen Übergang begrüßen. Ein langsamer Niedergang ist für das internationale System weit weniger gefährlich als ein abrupter Kollaps.
Beide Wege sind jedoch mit erheblichen Risiken verbunden. Besonders gefährlich seien politische Akteure, die in der Krise zur Eskalation neigten – bis hin zu nuklearen Drohungen. Insider verweisen in diesem Zusammenhang explizit auf Stimmen aus dem politischen Establishment, die lieber einen großen Krieg riskierten, als eine Welt zu akzeptieren, in der die USA auf chinesische Hilfe angewiesen sind.
Außerdem besteht die Gefahr, dass kurzfristige politische Interessen langfristige wirtschaftliche Stabilität untergraben. Verzögerte Reformen, populistische Maßnahmen oder symbolische Konfrontationen könnten den Anpassungsprozess erschweren und das Vertrauen von Investoren und Partnerstaaten weiter schwächen.
Die sozialen Kosten des Umbruchs
Am Ende solcher systemischen Krisen stehen selten abstrakte Institutionen, sondern konkrete gesellschaftliche Folgen. Die Bevölkerung wird erhebliche Einschnitte hinnehmen müssen – etwas, woran sie seit Generationen nicht mehr gewöhnt ist. Historische Vergleiche mit der Ölkrise der 1970er Jahre oder einzelnen außenpolitischen Demütigungen halten Analysten für völlig unzureichend. Am ehesten lasse sich das Kommende mit dem amerikanischen Bürgerkrieg vergleichen – und selbst dieser sei regional begrenzt gewesen.
Jedenfalls trifft ein Finanz- und Wirtschaftseinbruch vor allem jene, die über geringe Rücklagen verfügen und auf stabile Einkommen angewiesen sind. Steigende Preise für Energie, Wohnen und Lebensmittel wirken regressiv: Sie belasten einkommensschwächere Haushalte überproportional.
Arbeitsplatzverluste in Industrie, Dienstleistungen und Technologiebranchen führen zu Unsicherheit, sinkender Kaufkraft und regionalen Abwärtsspiralen. Öffentliche Haushalte geraten unter Druck, während gleichzeitig der Bedarf an sozialer Unterstützung steigt. Sparmaßnahmen bei Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen sind häufige Begleiterscheinungen.
Für viele Menschen äußert sich eine solche Krise nicht in geopolitischen Begriffen, sondern in ganz konkreten Erfahrungen: steigende Mieten, unsichere Jobs, schwindende Altersvorsorge, eingeschränkter Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Anpassungslasten werden dabei oft ungleich verteilt, während Vermögensverluste in oberen Einkommensschichten teilweise abgefedert werden können.
Ein offener Ausgang
Die gegenwärtige Situation lässt sich weder eindeutig als bevorstehender Zusammenbruch noch als kontrollierter Übergang beschreiben. Vieles hängt von politischen Entscheidungen, internationalen Kooperationsformen und der Fähigkeit ab, strukturelle Probleme offen zu adressieren. Klar ist jedoch, dass die bestehenden ökonomischen und finanziellen Arrangements nicht unverändert fortbestehen können.
Die kommenden Jahre dürften daher von erhöhter Volatilität geprägt sein – an den Märkten, in der Politik und im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ob daraus ein geordneter Wandel oder ein chaotischer Bruch entsteht, ist offen. Sicher ist lediglich, dass die Kosten eines solchen Übergangs nicht gleichmäßig verteilt sein werden – und dass sie für viele Menschen sehr real und spürbar ausfallen.
Soweit die möglichen bis wahrscheinlichen ökonomisch-geopolitischen Aussichten auf unsichere Zeiten. Doch wie sieht es innenpolitisch aus? Auch hier kommen die Einschläge offensichtlich näher.
C. Der Westen am Rande innerer Kriege
Die Vorstellung, westliche Demokratien könnten erneut in einen Bürgerkrieg abgleiten, galt lange Zeit als nahezu undenkbar. Bürgerkriege, so das verbreitete Selbstverständnis in Europa und Nordamerika, seien Phänomene »anderer Weltregionen«: des globalen Südens, gescheiterter Staaten (Failed states) oder postkolonialer Gesellschaften. Genau diese mentale Grenzziehung stellt David Betz, Professor für »War in the Modern World« am King’s College London, fundamental in Frage. In einem ausführlichen Gespräch legt er dar, warum aus seiner Sicht inzwischen alle zentralen Indikatoren für einen innergesellschaftlichen Großkonflikt im Westen erfüllt sind – und warum dieser Prozess nach seiner Einschätzung nicht mehr vollständig aufzuhalten, sondern höchstens noch abzumildern ist.
Betz argumentiert dabei nicht politisch-aktivistisch, sondern explizit aus der Perspektive der vergleichenden Bürgerkriegsforschung. Seine These lautet, dass westliche Gesellschaften heute genau jene strukturellen Merkmale aufweisen, die in der Fachliteratur seit Jahrzehnten als verlässliche Vorboten innerer Gewalt gelten. Der entscheidende Unterschied bestehe lediglich darin, dass diese Umbruchkräfte bislang vor allem »anderswo« untersucht worden seien – nicht jedoch im Westen selbst.
Die Macht der Sprache – und die Angst vor dem Aussprechen
Betz verweist auf ein zentrales Dilemma, das er als symptomatisch für den westlichen Umgang mit Krisendiagnosen beschreibt: die tief verwurzelte Überzeugung, allein schon das Sprechen über bestimmte Risiken könne diese – wie eine »Self-fulfilling prophecy« (selbsterfüllende Prophezeiung) – erst hervorbringen. In Europa, so Betz, herrsche ein ausgeprägter Glaube an die performative Macht von Sprache – an die Idee, soziale Realität durch Begriffe zu »erschaffen« oder zu »normalisieren«. Wer über Bürgerkrieg spreche, so die implizite Befürchtung, trage womöglich selbst zu dessen Eintreten bei.
Diese Haltung habe sich besonders stark bei den akademischen und politischen Funktionseliten verfestigt. Regierungen verhielten sich zunehmend so, als sei Unterdrückung von Debatten ein legitimes Mittel der Gefahrenabwehr. Die Ironie liege jedoch darin, dass westliche Gesellschaften historisch einmal genau das Gegenteil vertraten: Ideen sind nicht durch Tabuisierung, sondern durch bessere Argumente zu besiegen. Dass diese argumentative Offenheit heute aufgegeben werde, interpretiert Betz als Zeichen einer tieferliegenden Erschöpfung – intellektuell, wirtschaftlich und strategisch.
Bürgerkrieg ist kein »fernes« Phänomen
Entgegen einer weitverbreiteten Annahme betont Betz, dass die wissenschaftliche Literatur Bürgerkriege keineswegs auf bestimmte Weltregionen beschränkt. Seriöse Forschung gehe gerade nicht davon aus, dass es etwas »Genetisches« oder Kulturelles gebe, das westliche Gesellschaften immunisiere. Vielmehr sei die Vorstellung, Bürgerkrieg sei ein Problem »heißer, staubiger Länder«, Ausdruck eines westlichen Selbstmissverständnisses.
Diese Haltung habe sich auch politisch niedergeschlagen. Betz verweist auf die berüchtigte Metapher von Josep Borrell, zwischen 2019 und 2024 Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, der Europa als »Garten« bezeichnete, umgeben von einem »Dschungel«, in dem Instabilität und Gewalt herrschten. Solche Bilder, so Betz, verstärkten die Illusion, der Westen sei grundsätzlich von innerem Zerfall ausgenommen. Die empirische Realität spreche jedoch eine andere Sprache.
Drei zentrale Indikatoren für Bürgerkrieg
Aus der umfangreichen vergleichenden Forschung zu innerstaatlichen Konflikten destilliert Betz drei Faktoren, die besonders zuverlässig auf die Gefahr eines Bürgerkriegs hindeuten. Entscheidend sei nicht das Vorliegen eines einzelnen Elements, sondern deren gleichzeitiges und verstärkendes Zusammenwirken. Genau dieses Zusammenspiel sei heute im Westen in außergewöhnlicher Deutlichkeit zu beobachten.
1. Fraktionalisierung – und ihre polare Zuspitzung
Der erste Faktor ist die Fraktionalisierung (bzw. Fragmentierung) der Gesellschaft. Dabei gehe es nicht nur um Meinungsverschiedenheiten über konkrete Sachfragen. Solche Konflikte habe es immer gegeben, ohne dass sie zwangsläufig zur Gewalt führten. Neu sei jedoch die Form der Fraktionalisierung, die Betz als polaren oder polarisierten Fraktionalismus bezeichnet.
In einer polar fraktionalisierten Gesellschaft, die aus einer Vielzahl kleiner(er) Gruppen besteht, ordnen Menschen ihre individuellen Überzeugungen zunehmend der wahrgenommenen Mehrheitsmeinung »ihres Lagers« unter. Politische Identität werde wichtiger als persönliche Abwägung. Der entscheidende Treiber dieses Prozesses sei Angst – insbesondere die Angst um die eigene Sicherheit. Wer sich bedroht fühle, suche Schutz in der Gruppe, passe sich ihr an und verschärfe dadurch ungewollt die Trennlinien zwischen den Lagern.
Dieser Prozess sei selbstverstärkend: Je stärker sich Gruppen abschotten, desto größer werde das Misstrauen gegenüber »den Anderen«, desto höher die Bereitschaft zur Eskalation. Die Gesellschaft zerfalle zunehmend in verfeindete Stämme, deren Konflikt nicht mehr als legitimer Streit unter Mitbürgern, sondern als existenzieller Kampf wahrgenommen werde.
2. Herabstufung und das Gefühl des »Ersatzes«
Der zweite Faktor trägt in der Fachliteratur den nüchternen Begriff der Herabstufung (Downgrading). Gemeint ist damit die Wahrnehmung einer vormals dominanten, meist homogenen Mehrheitsgruppe, einen dauerhaften Statusverlust zu erleiden – kulturell, sprachlich, rechtlich, ökonomisch und religiös. Im westlichen Kontext betrifft dies nach Betz vor allem die einheimische, historisch gewachsene Mehrheitsbevölkerung Europas.
Im öffentlichen Diskurs werde dieses Phänomen häufig unter dem Begriff der »Ersetzung« oder des »großen Austauschs« (Great Replacement) verhandelt – ein Ausdruck, der lange als extremistisch galt, inzwischen jedoch von erheblichen Teilen der Bevölkerung geteilt wird. Betz spielt darauf an, dass im Vereinigten Königreich laut Umfragen vom April 2023 mehr als 30 Prozent der Menschen glauben, ein solcher Prozess finde tatsächlich statt. Inzwischen glauben dies schon wesentlich mehr.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sei diese Wahrnehmung nicht einfach irrational. Die westlichen Gesellschaften hätten in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden demografischen Wandel erlebt, vor allem durch Masseneinwanderung. Dieser Wandel sei politisch weitgehend gegen den erklärten Willen der Bevölkerung vollzogen worden. Keine der großen Parteien habe je offen mit einem Programm umfassender Migration Wahlkampf gemacht; stattdessen seien stets niedrige, kontrollierte Zuwanderungszahlen versprochen worden.
Die reale Entwicklung – insbesondere die Zuwanderung gering qualifizierter Arbeitskräfte oder funktionaler Analphabeten – habe jedoch bei vielen Menschen den Eindruck erzeugt, wirtschaftlich und kulturell verdrängt zu werden. Dieses Gefühl der Herabstufung sei, so Betz, ein klassischer und äußerst starker Treiber innerer Gewalt.
3. Die Krise der Legitimität
Der dritte Indikator ergibt sich logisch aus den beiden ersten: der Verlust des Vertrauens in das politische System als legitimes Instrument kollektiver Problemlösung. Betz spricht in diesem Zusammenhang von einer tiefgreifenden Legitimationskrise westlicher Demokratien.
Ein besonders aussagekräftiges Symptom sei die heute weitverbreitete Überzeugung, Wahlen hätten keine reale Wirkung. Wenn »Wählen-ändert-nichts« zur dominanten politischen Haltung werde, könne von hoher Systemlegitimität keine Rede mehr sein. Begriffe wie »Einheitspartei« oder »Elitenkartell« spiegelten genau diese Wahrnehmung wider: die Annahme, dass politische Entscheidungen letztlich immer den Interessen einer kleinen Herrscherkaste folgten, unabhängig vom Wahlausgang.
Betz verweist auf empirische Studien – insbesondere aus den USA –, die zeigen, dass sich bei Konflikten zwischen Elitenmeinung und Mehrheitswillen fast immer die ›Eliten‹ durchsetzen. Über Jahrzehnte hinweg untergrabe dies zwangsläufig das Vertrauen in demokratische Verfahren.
Eng damit verbunden sei der langfristige Vertrauensverlust in Institutionen insgesamt. Seit den 1970er Jahren lasse sich ein kontinuierlicher Rückgang des Vertrauens in Politik, Justiz, Medien und zunehmend auch in Polizei, Kirche und Medizin beobachten. Besonders alarmierend sei der Vertrauensverlust gegenüber Polizei und Rechtsstaat, da diese Institutionen im Ernstfall Träger der inneren Ordnung sind.
Wenn alle Ampeln auf Rot stehen
In der Zusammenschau kommt Betz zu einer drastischen Diagnose: In westlichen Gesellschaften stehen alle drei klassischen Bürgerkriegsindikatoren nicht auf Gelb, sondern auf Tiefrot. Fraktionalisierung, Herabstufung und Legitimationsverlust verstärkten sich gegenseitig und erzeugten eine hochgradig instabile Lage.
Dabei gehe es nicht um kurzfristige Ausschläge oder mediale Hysterien, sondern um langfristige, strukturelle Trends, die seit Jahrzehnten wirksam seien. Die aktuelle Beschleunigung dieser Entwicklungen – etwa sichtbar in der steigenden Erwartung politischer Gewalt in Umfragen – sei deshalb besonders besorgniserregend.
Wer würde gegen wen kämpfen?
Eine der zentralen Fragen lautet: Wie könnte ein solcher Bürgerkrieg konkret aussehen? Betz warnt davor, sich klassische Szenarien mit klaren Frontlinien und formellen Armeen vorzustellen. Vielmehr zeichne sich ein asymmetrischer, chronischer Konflikt niedriger bis mittlerer Intensität ab.
Nach einer Phase fortschreitender Fraktionierung kristallisierten sich drei Hauptgruppen heraus:
- Die postnationale, parasitäre Funktionselite (Anywheres), kosmopolitisch, polyglott, säkular, global orientiert und häufig indifferent oder sogar ablehnend gegenüber nationalen Interessen.
- Nicht-einheimische Gemeinschaften, insbesondere muslimische Bevölkerungsgruppen, die sich – so Betz’ Einschätzung – als weitgehend nicht assimilierbar erwiesen hätten. Schon der türkische (nicht so heimliche) Muslimbruder Recep Tayyip Erdogan verunglimpfte Assimilation als »ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.
- Die einheimische, wertschöpfende, noch weitgehend homogene Mehrheit (Somewheres), eine schwindende, ortsgebundene Bevölkerung, die ihre kulturelle und nationale Identität bewahren wolle.
Der zentrale Konflikt verlaufe dabei zwischen der wertschöpfenden (einheimischen) Mehrheit und der parasitären Funktionselite. Betz beschreibt diesen Gegensatz als eine moderne Form des Bauernaufstands – nicht abwertend gemeint, sondern im Sinne eines konservativen Aufbegehrens gegen die politischen, medialen und ökonomischen Herrscherkasten, die den »Gesellschaftsvertrag« gebrochen hätten.
Unruheherde: Die Ausgangstätten des Aufruhrs
Ein möglicher Bürgerkrieg wird hauptsächlich in städtischen Ballungsräumen ausgetragen. Dazu verwendet David Betz ein Modell, das auf dem ›Feral Cities‹-Konzept aufbaut, dem Konzept der ›verwilderten Stadt‹ oder der ›Stadt als Urwald‹. Das Konzept wurde erstmals 2003 vom Historiker und Marineoffizier Dr. Richard J. Norton in einem Aufsatz für die ›Naval War College Review‹ beschrieben. Das Modell beschreibt Metropolen, einst pulsierende regionale oder globale Zentren der Wirtschaft, die ihre zivilisatorische Ordnung verloren haben. Sie zerfallen zu Nährböden für Krankheiten, Umweltverschmutzung, Kriminalität und Chaos. Die Infrastruktur – Strom, Wasser, Verkehr – ist marode oder zusammengebrochen. Das öffentliche Leben gleitet infolge der Auflösung staatlicher Ordnungen in einen Zustand der Anarchie ab, geprägt von fehlender staatlicher Kontrolle und der Herrschaft von Banden und/oder Milizen.
Die ethnische Fragmentierung einer Stadt kann ein hinreichender, muss aber nicht unbedingt ein notwendiger Grund für den Absturz ins Chaos sein. Indessen zeichnen sich insbesondere zahlreiche westliche, stark von Einwanderung betroffene Städte oder Stadtteile, durch eine ethnische Zersplitterung aus, die sich zu ethnischen Enklaven, sogenannten Mikrostaaten, innerhalb einer Stadt oder eines Stadtviertels ausprägen können. Gemeint sind damit Gebiete, in denen eine oft informell organisierte, ethnisch oder ideologisch dominante Gruppe, die eine hohe Autonomie, ideologische (z.B. religiöse) Identität und kulturelle Eigenständigkeit pflegt, eine hohe Konzentration aufweist und eine so starke eigene soziale, kulturelle und wirtschaftliche Infrastruktur aufgebaut hat, dass sie im Wesentlichen als eine unabhängige Einheit innerhalb der größeren Stadt funktioniert.
Solche Enklaven, die sich wie autonome Einheiten verhalten, entstehen meist durch Migration, wenn Menschen mit ähnlicher Herkunft und Abstammung in einem bestimmten städtischen Gebiet zusammenfinden, um ihre Kultur, Sprache und Traditionen zu bewahren. Diese Gebiete entwickeln oft eigene soziale Strukturen mit eigenen Regeln, mit eigenen Geschäften, Restaurants, religiösen Einrichtungen, kulturellen Zentren und sogar informellen sozialen Unterstützungsnetzwerken, die parallel zu den offiziellen städtischen Strukturen existieren. Es herrscht ein hohes Maß an kultureller Abgrenzung. Solche Mikrostaaten mit orientalischen Supermärkten, Halal-Metzgereien, Schmuckläden, Brautmodegeschäften, Juwelieren, Reisebüros, Barber Shops, Wettstudios, Spielhallen Teestuben, Cafés, Kulturvereinen und Moscheen entwickelten sich zu abgeschotteten Parallelgesellschaften. Im Extremfall könnten sich Enklaven mit Scharia-Recht und einer eigenen bewaffneten Identität herausbilden und als Brandherde des Aufruhrs selbst entzünden.
Das Beispiel eines »ethnischen Mikrostaats« (im fortgeschrittenen Frühstadium) ist die Mauserstraße in Stuttgart-Feuerbach, wo sich während der letzten 20 Jahre rund um die DİTİB-Moschee eine ethnisch-türkische, orientalische Médina herausgebildet hat. Als Zeichen der dauerhaft sichtbaren Präsenz soll sie künftig von einer neuen Zentralmoschee überragt werden, die mit 2.720 Plätzen sogar die größte in Deutschland wäre. In diesem Mikrostaat drängen sich in alten Werkshallen und dicht an dicht türkische Supermärkte, Restaurants, Cafés, und Teestuben, Reisebüros, Brautmoden-, Juwelier-, Teppich- und Buchläden, ein Verlag und ein Bestattungsinstitut, Friseursalons, Rechtsanwaltskanzleien, Möbelhäuser und Textilhändler mit Kostümen, »die kleine Jungs beim Beschneidungsfest tragen«.
Der »schmutzige Krieg« des 21. Jahrhunderts
Der kommende Aufstand werde nach Betz’ Einschätzung indessen nicht in einem offenen Bürgerkrieg kulminieren, sondern in einer Form des chronischen Niedrigintensitätskonflikts, vergleichbar mit den »schmutzigen Kriegen« Lateinamerikas, den »bleiernen Jahren« in Italien oder dem Nordirland-Konflikt. Typisch seien gezielte Gewalttaten gegen die Funktionseliten: Attentate, Entführungen, Einschüchterungskampagnen. Ziel sei weniger der vollständige Umsturz als vielmehr die Disziplinierung der Funktionselite, um sie zur Rückkehr zu nationalen Interessen zu zwingen.
Ein zweiter Konfliktvektor sei interethnisch geprägt und verlaufe vor allem entlang der Achse Stadt versus Land. Städte, hochgradig abhängig von externer Infrastruktur, seien besonders verwundbar. Angriffe auf Strom-, Energie- und Lebensmittelversorgung könnten mit vergleichsweise geringem Aufwand enorme Destabilisierungswirkungen entfalten.
Über den Rubikon: Der Fluss ohne Wiederkehr
Auf die entscheidende Frage, ob sich diese Entwicklung noch umkehren lasse, antwortet Betz unmissverständlich: vollständig vermeiden lasse sich der Konflikt nicht mehr. Diese Möglichkeit sei verpasst worden – spätestens mit den migrationspolitischen Entscheidungen der frühen 2010er Jahre. Was bleibe, sei Schadensbegrenzung. Regierungen und Sicherheitsbehörden müssten sich auf innere Konflikte vorbereiten, um deren Dauer und Intensität zu minimieren. Je kürzer ein solcher Konflikt dauere, desto geringer der gesellschaftliche Schaden.
Betz greift zum drastischen Bild eines vereiterten Zahns: Man könne ihn nicht ewig ignorieren; sei ein bestimmter Schmerzpegel erreicht, müsse er schnell gezogen werden. Ein langes, qualvolles Hinauszögern verschlimmere nur die Folgen.
Eine unbequeme Diagnose
David Betz’ Analyse ist düster, provokant und zutiefst unbequem. Sie widerspricht zentralen Selbstbildern westlicher Gesellschaften und stellt politische Dogmen in Frage, die lange als unantastbar galten. Ob man seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht – seine Argumentation folgt einer klaren inneren Logik und stützt sich auf etablierte Konzepte der Konfliktforschung.
Gerade darin liegt ihre Sprengkraft: Nicht apokalyptische Rhetorik, sondern nüchterne Indikatoren führen zu dem Ergebnis, dass der Westen sich in einer historisch gefährlichen Phase befindet. Die Warnung lautet nicht, dass der Bürgerkrieg morgen beginne – sondern dass die strukturellen Voraussetzungen bereits geschaffen sind. Wie Gesellschaften darauf reagieren, bleibt offen. Doch das Ignorieren der Diagnose, so Betz’ implizite Botschaft, dürfte der riskanteste aller Wege sein.
Um es zu wiederholen: Der Preis dieser Jahrhundert- und Jahrtausend-Transformationen wird hoch sein – und er wird vor allem auf dem Rücken der »einfachen Leuten auf der Straße« ausgetragen und von ihnen bezahlt. Was sollen und was können sie noch tun?
¹Zwischen Analyse und Alarmismus: Eine kritische Einordnung
So geschlossen und historisch unterfüttert die Argumentation von Prof. Xueqin Jiang wirkt, so notwendig ist eine kritische Distanz. Seine Diagnose beruht auf einem konsistenten Deutungsrahmen – doch genau darin liegt auch ihre Schwäche. Jiang interpretiert die internationale Politik stark deterministisch. Machtverschiebungen, so seine Lesart, führten nahezu zwangsläufig zu Großkriegen. Geschichte erscheine als Abfolge mechanischer Gesetzmäßigkeiten: Aufstieg, Hybris, Krieg, Verfall. Kritiker würden einwenden, dass dieser Ansatz den Spielraum politischer Entscheidungen unterschätzt. Zwar ist die multipolare Welt fragiler als die unipolare Phase nach 1990. Doch daraus folgt nicht automatisch ein Weltkrieg. Historiker und Politikwissenschaftler weisen darauf hin, dass es durchaus Machtverschiebungen ohne globale Katastrophe gegeben hat – etwa den relativen Niedergang Großbritanniens zugunsten der USA im frühen 20. Jahrhundert, der trotz zweier Weltkriege nicht zwingend so verlaufen musste, wie er verlief. Kurz gesagt: Struktur erzeugt Druck, aber sie erzwingt keine Eskalation.
Auffällig ist zudem Jiangs asymmetrische Zuschreibung von Verantwortung. Westliche Staaten – insbesondere die USA und ihre Verbündeten – erscheinen fast ausschließlich als aggressive, hegemoniale Akteure, während Russland, China oder der Iran primär reaktiv dargestellt werden. Diese Perspektive blendet jedoch eigene imperiale Ambitionen dieser Staaten aus. Russlands Angriff auf die Ukraine, Chinas Vorgehen im Südchinesischen Meer oder Irans regionale Interventionspolitik lassen sich nicht allein als Verteidigung gegen westlichen Druck erklären. Eine nüchterne Analyse müsste anerkennen, dass alle Großmächte Machtpolitik betreiben, nicht nur der Westen. Gerade Jiangs Vergleich mit dem Versailler Vertrag wird in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Die These, Russland sei »provoziert« worden, erklärt Eskalation, relativiert aber zugleich die Handlungsfreiheit der Aggressoren – ein Punkt, der moralisch wie analytisch problematisch ist.
Besonders kritisch ist Jiangs wiederholte Behauptung, der Dritte Weltkrieg sei faktisch bereits eingeläutet. Solche Aussagen erzeugen Aufmerksamkeit, bergen jedoch die Gefahr eines selbsterfüllenden Narrativs. Wenn politische Eliten, Medien und Öffentlichkeit beginnen, Krieg als unvermeidlich zu betrachten, sinkt die Bereitschaft zu Kompromissen, Deeskalation und Diplomatie. Friedens- und Konfliktforscher warnen genau vor diesem Effekt: Wer Eskalation als Naturgesetz beschreibt, entpolitisiert sie – und entlastet Entscheidungsträger von Verantwortung. Auch Jiangs kulturpessimistische Beschreibung des »westlichen Niedergangs« ist umstritten. Seine Bezugnahme auf Spengler, Überurbanisierung, Dekadenz oder soziale Medien ist eher zivilisationskritisch als empirisch belastbar. Solche Argumente sagen oft mehr über normative Weltbilder aus als über kausale Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Krieg. Demographische Probleme, soziale Ungleichheit und politische Polarisierung sind real – doch sie führen historisch ebenso oft zu Reformen wie zu Zusammenbrüchen. Die These, westliche Gesellschaften seien »zu dekadent« für Frieden, bewegt sich gefährlich nahe an kulturmoralischen Abwertungen.
Warnung ernst nehmen – Schlussfolgerung hinterfragen
Trotz aller Kritik hat Jiangs Analyse einen unbestreitbaren Wert: Sie zwingt dazu, die Illusion ewiger Stabilität aufzugeben. Die regelbasierte Ordnung ist fragiler, geopolitische Blockbildung nimmt zu, Eskalationsrisiken steigen. Diese Diagnose teilen auch viele Mainstream-Analysen. Problematisch wird Jiangs Ansatz dort, wo Warnung in Vorherbestimmung kippt. Seine Thesen erklären Risiken, aber sie neigen dazu, Alternativen unsichtbar zu machen. Gerade darin liegt die eigentliche Herausforderung unserer Zeit: nicht nur den Abgrund zu erkennen, sondern Wege zu finden, ihm nicht zwangsläufig zu folgen.
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