
Die Bundeswehr zwischen Vision und Wirklichkeit
Während internationale Thinktanks die Schlachtfelder der Zukunft im digitalen Raum und im Orbit verorten, kauft die Bundeswehr vor allem Lastwagen. Ein Realitäts-Check zwischen strategischen Ambitionen und materieller Aufrüstung.
Die Vision ist eindringlich: Bis 2050 werden Kriege nicht mehr primär mit Panzern und Artillerie geführt, sondern mit Algorithmen, Schwarmdrohnen und Cyberwaffen. Künstliche Intelligenz beschleunigt Entscheidungen auf Millisekunden, autonome Systeme kämpfen in Dimensionen, die menschliche Reaktionsgeschwindigkeiten weit übersteigen. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwimmt, der Weltraum wird zum umkämpften Terrain, Ressourcenkonflikte, Migration und demografische Änderungen verschärfen sich. So zeichnen renommierte Institutionen und Thinktanks wie die US-amerikanische RAND Corporation, das britische ›Royal United Services Institute for Defence and Security Studies‹ (RUSI) oder das ›NATO Allied Command Transformation‹ Bilder einer militärischen Revolution, die bereits begonnen hat.
Doch wie bereitet sich Deutschland auf diese Zukunft vor? Ein Blick auf die aktuellen Beschaffungsprogramme der Bundeswehr offenbart eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen strategischer Vision und operativer Realität.
Die Einkaufsliste: Stahl statt Silizium
2024 markierte einen Rekord: 97 Beschaffungsprojekte legte das Verteidigungsministerium dem Parlament vor – mehr als je zuvor. Die Bundeswehr steigerte ihre »Drehzahl deutlich«, wie es offiziell hieß. Doch wofür genau? Ein Blick in die Bestelllisten ist aufschlussreich: 200 Wechsellader-Lastkraftwagen, 180 ungeschützte und 20 geschützte Transportfahrzeuge, schwere Waffenträger für die Infanterie, zusätzliche Fregatten der F-126-Klasse. Bis Ende 2024 wurden knapp 2.000 Transportfahrzeuge ausgeliefert – ein »großer Schritt nach vorn« in der Mobilität der Truppe.
Die Modernisierung der Satellitenkommunikation findet sich zwar ebenfalls auf der Liste, ebenso wie der Boxer Skyranger, ein Flugabwehrpanzer, und Weiterentwicklungen des Eurofighters. Doch das Gesamtbild bleibt ernüchternd: Die Bundeswehr rüstet primär konventionell auf. Sie ersetzt veraltetes Material, schließt Lücken in der Grundausstattung und stärkt klassische militärische Fähigkeiten – Panzerung, Feuerkraft, logistische Kapazität.
Von den disruptiven Technologien, die laut Zukunftsstudien die Kriegsführung revolutionieren werden, findet sich wenig. Autonome Schwarmdrohnen? Fehlanzeige. KI-gesteuerte Systeme zur kognitiven Kriegsführung? Nicht in Sicht. Umfassende Cyber-Kapazitäten als zentrales Element militärischer Macht? Bestenfalls in Ansätzen vorhanden.
Strategische Papiere: Große Worte, kleine Schritte
Die politischen Vorgaben klingen ambitioniert. Die 2023 verabschiedete Nationale Sicherheitsstrategie steht unter dem Leitmotiv »wehrhaft, resilient, nachhaltig« und betont ein umfassendes Sicherheitsverständnis, das weit über klassische militärische Bedrohungen hinausgeht. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 fordern eine »kriegstüchtige« Bundeswehr und sprechen von notwendiger »Gedankenwende« nach der Zeitenwende. Flexibilität, Agilität und Vernetzung werden als zentrale Anforderungen genannt.
Doch zwischen strategischem Anspruch und konkreter Umsetzung klafft eine Lücke. Die Nationale Sicherheitsstrategie erkennt zwar Cyberangriffe und hybride Bedrohungen als zentrale Risiken an, die Investitionen konzentrieren sich jedoch weiterhin auf traditionelle Waffensysteme. Die Forderung nach einer »resilienten« Gesellschaft, die permanenten Angriffen auf Vertrauen und Zusammenhalt standhält, findet kaum Entsprechung in konkreten Programmen zur kognitiven oder informationellen Verteidigung.
Wo Deutschland punktet – und wo nicht
Fairerweise muss man festhalten: Ganz untätig ist die Bundeswehr im Bereich neuer Technologien nicht. Die Lieferung von bis zu 4.000 KI-gestützten Strikedrohnen an die Ukraine, entwickelt vom deutschen Startup Helsing, zeigt, dass deutsche Unternehmen durchaus innovative Systeme entwickeln können. Auch Quantum Systems aus Bayern hat mit teilweise KI-gesteuerten Drohnen Erfolge erzielt. Die Bundeswehr selbst experimentiert in Positionspapieren mit Szenarien, in denen 5.000 Minidrohnen innerhalb von Minuten Transportfahrzeuge verlassen und weitgehend unsichtbar operieren.
Doch diese Projekte bleiben punktuell. Sie sind nicht Teil einer systematischen Transformation, die auf die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte antwortet. Während die Ukraine im aktuellen Konflikt zum Echtzeit-Labor für Drohnenschwärme, elektronische Kriegsführung und KI-gestützte Aufklärung wird, hält Deutschland an bewährten Beschaffungszyklen fest – Systeme, die von der Bedarfsfeststellung bis zur Einsatzreife Jahre, wenn nicht Jahrzehnte benötigen.
Die Realität der Zeitenwende: Aufholjagd statt Avantgarde
Was bedeutet diese Diskrepanz? Zunächst einmal spiegelt sie eine nüchterne Realität wider: Die Bundeswehr muss aufholen, was jahrzehntelang versäumt wurde. Fehlende Transportkapazitäten, veraltete Ausrüstung, mangelnde Munitionsbestände – all das musste und muss dringend behoben werden, bevor man an Zukunftstechnologien denken kann. Die konventionelle Aufrüstung ist keine Abkehr von der Zukunft, sondern eine Voraussetzung dafür, überhaupt einsatzfähig zu bleiben.
Zugleich offenbart sich ein Dilemma: Während die Bundeswehr ihre Grundfähigkeiten wiederherstellt, entwickeln sich die Technologien weiter, die den Charakter künftiger Kriege bestimmen werden. Autonome Systeme, KI-gestützte Entscheidungsfindung, Cyberwaffen – all das erfordert nicht nur Geräte, sondern neue Denkweisen, Organisationsstrukturen, rechtliche Rahmen und ethische Debatten. Genau hier zeigt sich die größte Lücke.
Die Frage nach der Verantwortlichkeit autonomer Waffensysteme, nach der Kontrolle komplexer Algorithmen, nach den Grenzen maschineller Entscheidungsgewalt – sie wird zwar in Fachkreisen diskutiert, eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung findet jedoch kaum statt. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien sprechen von »Kriegstüchtigkeit«, doch was bedeutet das in einer Welt, in der Desinformation, kognitive Manipulation und Angriffe auf demokratische Institutionen zu permanenten Bedrohungen werden?
Zukunft ohne Frontlinien
Die Zukunftsszenarien internationaler Thinktanks beschreiben eine Welt, in der militärische Gewalt allgegenwärtiger, aber weniger spektakulär wird. Kriege finden im digitalen Raum statt, in Unterseekabeln, in Satellitenorbits und in den Köpfen der Menschen. Sie beginnen nicht mit einem Angriff, sondern schleichend, über Monate und Jahre hinweg. Gesellschaften müssen lernen, mit dieser neuen Normalität umzugehen – und genau darin liegt die eigentliche Herausforderung.
Deutschland hat mit der Nationalen Sicherheitsstrategie und den Verteidigungspolitischen Richtlinien einen ersten Schritt getan, diese Herausforderungen anzuerkennen. Doch die Umsetzung hinkt hinterher. Die Beschaffungsprogramme bleiben in alten Kategorien verhaftet, die gesellschaftliche Debatte über Kriegsführung und Sicherheit im 21. Jahrhundert steht erst am Anfang, und die organisatorische Transformation der Bundeswehr ist ein Marathonlauf, der kaum begonnen hat.
Fazit: Aufbruch oder Anpassung?
Die Diskrepanz zwischen den Visionen für 2040-2050 und der aktuellen Beschaffungspraxis ist real – aber sie ist nicht nur ein deutsches Problem. Jede Armee weltweit steht vor der Frage, wie sie den Spagat zwischen aktueller Einsatzfähigkeit und zukünftiger Relevanz bewältigt. Deutschland muss aufholen, was versäumt wurde, und gleichzeitig vorausdenken, was kommen wird.
Die Herausforderung ist gewaltig: Es geht nicht nur darum, neue Technologien zu beschaffen, sondern um einen fundamentalen Wandel in Organisation, Denkweise und gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Kriegsführung der Zukunft wird nicht allein in Ministerien und Kasernen entschieden, sondern in einer breiten Debatte darüber, welche Rolle Technologie, Ethik und politische Kontrolle in einer Welt spielen sollen, in der die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen.
Bis 2040 ist es nicht mehr weit. Die Zeit für eine echte Gedankenwende läuft.
Hier geht es zu Teil 1.
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