Die gefährliche Fragilität des »Digitalismus«

Die Welt ist auf dem Weg zur totalen digitalen Vernetzung, und genau das macht sie verwundbarer denn je. Der Soziologieprofessor Dean Curran von der ›University of Calgary‹ warnt jetzt aufgrund seiner eigenen Forschungen eindringlich: Wir steuern auf eine systemische digitale Krise zu, die Alarmzeichen sind längst nicht mehr zu übersehen. »Von Datenlecks wie dem Equifax-Datendiebstahl im Jahr 2017 bis hin zum jüngsten Cyberangriff auf den britischen Einzelhändler Marks & Spencer sind Geschäftsabläufe und Daten im Internet weiterhin anfällig

Das große digitale Experiment

Die Tech-Konzerne führen ein gewaltiges gesellschaftliches Experiment durch – auf unser aller Kosten. Während sie »den Löwenanteil der Gewinne einstreichen«, werden die Risiken auf die Gesellschaft abgewälzt. Das Geschäftsmodell der digitalen Wirtschaft basiert darauf, so schnell wie möglich so groß wie möglich zu werden. Die Folge: immer mehr Vernetzung, immer weniger Redundanz, immer größere Komplexität.

Parallelen zur Finanzkrise 2008

Curran zieht einen beunruhigenden Vergleich: Die heutige digitale Wirtschaft ähnelt dem Finanzsystem vor 2008. Damals führte die enge Verflechtung der Banken bei gleichzeitigem Abbau von Sicherheitspuffern zur Katastrophe. Heute sehen wir dasselbe Muster: Die »Move fast and break things«-Mentalität der Tech-Firmen eliminiert Konkurrenten und analoge Alternativen, während die Abhängigkeiten zwischen Datenbanken, Plattformen und Netzwerken explosionsartig zunehmen.

Doch es gibt einen wichtigen Unterschied zu 2008: Diesmal sind die Warnsignale nicht versteckt, sondern für alle sichtbar. Cyberangriffe verursachen Milliardenschäden. Beispielsweise legte der »CrowdStrike-Ausfall« am 19.07.2024 Zehntausende Systeme lahm. Ein fehlerhaftes Update der Sicherheitssoftware verursachte dabei weltweite Computerausfälle, die den Flugverkehr, das Bankwesen, den Rundfunk und andere Dienste beeinträchtigten. Überall zeigen ständige Hackerangriffe, Ransomware und Datenlecks die extreme Fragilität des Systems.

KI als Brandbeschleuniger

Künstliche Intelligenz verschärft die Situation dramatisch. AI-Halluzinationen und die exponentielle Zunahme von Desinformation sind neue Risikofaktoren. Tempo und Ausmaß der KI-Entwicklung intensivieren bestehende Gefahren für Vertraulichkeit, Systemintegrität und Verfügbarkeit.

Das politische Versagen

Das eigentliche Problem liegt tiefer: Regierungen können nicht zwischen wertvollen gesellschaftlichen Beiträgen und massiv schädlichen Entwicklungen unterscheiden. Die Tech-Industrie erhielt freie Hand, mit unseren Häusern, persönlichen Daten und Arbeitsplätzen zu experimentieren. Während wir durchaus fähig seien, eingetretene Schäden zu regulieren, versagen wir beim Verhindern der nächsten Krise, ist Curran überzeugt.

Seine düstere Prognose: Erst wenn die Mächtigen einen ausreichend großen Schock erleben, wird sich etwas ändern. Bis dahin balancieren wir auf Messers Schneide – in Erwartung eines digitalen Kollapses, der von einem massiven Infrastrukturausfall bis zur gezielten Manipulation lebenswichtiger Systeme reichen könnte.

Wenn KI das Netz destabilisiert

In die gleiche Kerbe wie Dean Curran schlägt auch der deutsche KI-Pionier Prof. Dr. Karl Hans Bläsius, der seit den 1980er Jahren auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz forscht und eindringlich vor den gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Risiken einer allumfassenden Digitalisierung und unkontrollierten KI-Entwicklung warnt. Er sagt: Generative KI-Systeme, die heute Texte, Bilder oder Programme erzeugen, könnten in Zukunft weit über ihre aktuellen Funktionen hinausgehen. Sie werden nicht nur auf Befehle reagieren, sondern zunehmend eigenständig handeln, sich gegenseitig verstärken und digitale Kettenreaktionen auslösen. Solche »Flash Wars« – blitzschnelle Abfolgen von Angriffen und Gegenangriffen – könnten das Internet destabilisieren und globale Krisen wie Finanzzusammenbrüche oder Versorgungsengpässe nach sich ziehen. Besonders kritisch ist der Einsatz von KI für Cyberangriffe, da erfolgreiche Strategien sich selbst verstärken und digitale Waffen beliebig oft eingesetzt werden können, was zu einer unkontrollierbaren Eskalation führen kann.

Ein weiteres zentrales Risiko ist die Erosion objektiver Wahrheit: KI kann in großer Menge Texte, Bilder, Videos und Audios erzeugen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüfbar ist. Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen echt und gefälscht, was Medien, Politik und Gesellschaft destabilisiert und die Polarisierung verstärkt. Auch militärische Systeme sind gefährdet: Frühwarnsysteme müssen Entscheidungen in Sekunden treffen, arbeiten aber mit unsicheren Daten. Fehlalarme könnten fatale Konsequenzen haben, etwa einen Atomkrieg aus Versehen.

Der schmale Grat: Chancen nutzen, Risiken beherrschen

Die Entwicklung hin zu einer Superintelligenz, die sich selbst verbessert und den Menschen übertrifft, würde diese Risiken verschärfen. Eine solche Intelligenz wäre nicht kontrollierbar, und Sicherheitsmechanismen könnten schnell wirkungslos werden. Bläsius sieht zwar enormes Potenzial der KI in Medizin, Wirtschaft und Wissenschaft, betont aber, dass technische Lösungen allein nicht ausreichen. Nur internationale Kooperation, Vertrauen und verbindliche Abkommen können verhindern, dass KI zu einer existenziellen Bedrohung wird.

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