KI-Revolution vertieft globale Ungleichheit

Künstliche Intelligenz erobert die Arbeitswelt in einem beispiellosen Tempo. Doch wofür die eilig eingeführte neue Technologie tatsächlich eingesetzt wird, enthüllt jetzt eine aktuelle Analyse des OpenAI-Konkurrenten Anthropic. Zwar bezieht sich die Studie nur auf die ›Claude‹-KI und ist nicht unbedingt repräsentativ für andere KI-Modelle wie ChatGPT von OpenAI, Microsoft Copilot, Google Gemini oder Grok von xAI. Als einer der Branchenführer bieten die Daten von Anthropic jedoch einen nützlichen Indikator. Wichtigste Erkenntnis:

Anstatt die menschliche Arbeitskraft zu unterstützen, nutzen Unternehmen KI hauptsächlich zur Automatisierung der Arbeitsplätze. In Zahlen ausgedrückt zeigten überwältigende 77 Prozent der Unternehmen, die Anthropics KI-Software ›Claude‹ nutzen, »Anzeichen von Automatisierung, wie etwa die vollständige Delegation von Aufgaben«.

Darüber hinaus verweist die Studie auf die äußerst ungleiche Nutzungsverteilung. In den USA verwenden bereits 40 Prozent der Beschäftigten KI-Tools bei der Arbeit – ein dramatischer Anstieg von 20 Prozent gegenüber 2023. Das Ergebnis basiert auf den Daten von einer Million Kundenzugriffen auf die KI-Software über die Anwendungsprogrammierschnittstelle (API) von Anthropic. Dabei offenbarte sich ein beunruhigendes Bild digitaler Spaltung. Während wohlhabende Länder wie Singapur und Kanada KI-Tools 4,6-fach beziehungsweise 2,9-fach häufiger nutzen als aufgrund ihrer Bevölkerungsgröße zu erwarten wäre, bleiben Schwellenländer wie Indonesien, Indien und Nigeria mit Nutzungsraten von nur 0,36, 0,27 und 0,2 deutlich zurück.

Diese ungleiche Verteilung spiegelt historische Muster bei der Einführung transformativer Technologien wider. Während Elektrizität über 30 Jahre brauchte, um von städtischen zu ländlichen Haushalten zu gelangen, und die ersten PC 20 Jahre benötigten, um die Mehrheit der US-Haushalte zu erreichen, hat KI bereits innerhalb von zwei Jahren Adoptionsraten erreicht, für die das Internet fünf Jahre brauchte.

Geografische Konzentration prägt Nutzungsmuster

Die Analyse zeigt deutliche Unterschiede nicht nur bei der Häufigkeit, sondern auch bei der Art der KI-Nutzung. In Ländern mit geringer KI-Verbreitung dominieren Programmieraufgaben über die Hälfte aller Anwendungen, während in führenden Ländern eine breitere Palette von Bildungs-, Wissenschafts- und Geschäftstätigkeiten zu beobachten ist.

Israel führt die globale Pro-Kopf-Nutzung mit einem KI-Nutzungsindex von 7 an – das bedeutet, seine arbeitsfähige Bevölkerung nutzt Claude siebenmal häufiger als aufgrund der Bevölkerungsgröße zu erwarten wäre. Singapur folgt mit 4,57, während Australien, Neuseeland und Südkorea die Top-Fünf vervollständigen. Andere große Volkswirtschaften weisen eine geringere Akzeptanz auf, darunter Frankreich mit 1,94, Japan mit 1,86 und Deutschland mit 1,84.

Besonders interessant: Länder mit höherer KI-Adoption neigen eher zu »kollaborativen Nutzungsmustern«, während Schwellenländer KI eher für vollständige Aufgabendelegation einsetzen. Dies könnte kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede in der Technologienutzung widerspiegeln.

USA: Washington D.C. übertrifft Kalifornien

Auch innerhalb der USA zeigen sich überraschende Muster. Washington D.C. führt mit einem KI-Nutzungsindex von 3,82, dicht gefolgt von Utah mit 3,78 – beide übertreffen damit Kalifornien deutlich. Die Hauptstadt zeigt dabei eine überproportionale Nutzung für Dokumentenbearbeitung und Bewerbungsunterstützung, was die spezifischen Anforderungen der dortigen Arbeitswelt widerspiegelt. Das könnte heißen: Die noch von »menschlicher Hand« selbst geschriebenen Bewerbungen werden durch KI-generierte Profile und Lebensläufe verdrängt, während sich die arbeitsuchenden Bewerber wiederum auf Stellenausschreibungen bewerben, die selbst KI-generiert sind.

Kalifornien konzentriert sich erwartungsgemäß auf IT-bezogene Aufgaben und digitales Marketing, während Florida verstärkt Unternehmensberatung und Fitness-Anwendungen zeigt. Diese regionalen Spezialisierungen unterstreichen, wie lokale Wirtschaftsstrukturen die KI-Nutzung prägen.

Unternehmen setzen auf Automatisierung

Besonders aufschlussreich sind die Erkenntnisse zur Unternehmensnutzung über Anthropics API-Schnittstelle. 77 Prozent der geschäftlichen Anwendungen folgen Automatisierungsmustern, verglichen mit nur etwa 50 Prozent bei privaten Nutzern. Unternehmen delegieren komplette Aufgaben an KI, anstatt kollaborativ zu arbeiten.

Die betriebliche Nutzung konzentriert sich stark auf Softwareentwicklung und administrative Aufgaben. Knapp die Hälfte aller API-Anfragen stammt aus dem Bereich Computer und Mathematik – mehr als acht Prozentpunkte höher als bei privater Nutzung. Bildungsaufgaben hingegen fallen von 12,3 Prozent bei Privatnutzern auf nur 3,6 Prozent bei Geschäftskunden.

Kosten spielen untergeordnete Rolle

Überraschend ist die geringe Preissensibilität der Unternehmen. Die am häufigsten genutzten Aufgaben in den API-Daten kosten tendenziell mehr als die weniger genutzten. Dies deutet darauf hin, dass Modellkapazitäten und der wirtschaftliche Wert der Automatisierung wichtiger sind als die reinen Kosten.

Für komplexe Aufgaben erweist sich der Zugang zu kontextuellen Informationen als entscheidender Engpass. API-Kunden, die ›Claude‹ für komplexe Aufgaben nutzen, tendieren dazu, dem System umfangreiche Eingaben zu liefern. Dies könnte für manche Unternehmen eine Barriere darstellen, die kostspielige Datenmodernisierung und organisatorische Investitionen erfordert.

Bildung und Wissenschaft im Aufschwung

Während Programmierung weiterhin dominiert, zeigen sich bemerkenswerte Verschiebungen in der Nutzung. Bildungsaufgaben stiegen von 9,3 auf 12,4 Prozent, wissenschaftliche Aufgaben von 6,3 auf 7,2 Prozent. Gleichzeitig nimmt die autonome Nutzung zu: Direktive Gespräche, bei denen Nutzer vollständige Aufgaben an Claude delegieren, sprangen von 27 auf 39 Prozent.

Besonders interessant ist die Entwicklung bei Programmieraufgaben: Der Anteil der Aufgaben zur Erstellung neuer Codes verdoppelte sich und stieg um 4,5 Prozentpunkte, während Debugging-Aufgaben um 2,8 Prozentpunkte fielen. Dies deutet darauf hin, dass verbesserte Modellzuverlässigkeit es Nutzern ermöglicht, mehr in einem einzigen Austausch zu erreichen.

Warnung vor wachsender Ungleichheit …

Die Studienergebnisse werfen wichtige Fragen zur wirtschaftlichen Konvergenz auf. Wenn die Produktivitätsgewinne für Länder mit hoher KI-Adoption größer sind, deuten die aktuellen Nutzungsmuster darauf hin, dass die Vorteile der KI sich in bereits reichen Regionen konzentrieren könnten – möglicherweise die globale wirtschaftliche Ungleichheit verstärkend.

Die Forscher warnen vor einer Umkehrung der Wachstumskonvergenz, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war. Transformative Technologien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts führten nicht nur zu modernem Wirtschaftswachstum, sondern auch zu großen Unterschieden im Lebensstandard weltweit.

… und massiver Veränderung des Arbeitsmarktes

Tatsächlich gibt es immer noch ernsthafte Zweifel am Nutzen von KI-Technologien und an der Qualität ihrer Arbeit. Große Sprachmodelle halluzinieren immer noch zu häufig und stellen falsche Behauptungen auf, wobei die Branche weiterhin rätselt, wie sich dieses Problem beheben lässt. Andererseits gibt es klare Anzeichen dafür, dass KI bereits jetzt gravierende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat, auch wenn sie die Dinge oft durcheinanderbringt, statt sie zu ordnen.

KI-Modelle ignorieren noch zu häufig Anweisungen und verletzen ihre eigenen Regeln, was verheerende Folgen haben kann, wie im Fall eines KI-Tools für »Vibe Coding«, das versehentlich die Schlüsseldatenbank des Technologieunternehmens Jason Lemkin löschte. Die KI namens ›Replit‹ bedauerte zwar, ihren Fehler nicht mehr rückgängig machen zu können, hatte aber dennoch eine monatelange Arbeit zerstört.

Die Anthropic-Studie macht deutlich: Wir befinden uns noch in den Anfangsstadien einer KI-getriebenen wirtschaftlichen Transformation. Die Entscheidungen, die Politiker, Wirtschaftsführer und die Öffentlichkeit jetzt treffen, werden die kommenden Jahre prägen. Die extreme Ungleichverteilung der frühen KI-Adoption ist ein Warnsignal, das eine koordinierte globale Antwort erfordert, um sicherzustellen, dass die KI-Revolution nicht zu einer weiteren Vertiefung der digitalen Kluft führt.

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