Atomszenario: Wie die europäische Funktionselite verharmlost
Seit Monaten ist eine bemerkenswerte Diskrepanz zu beobachten: Während die militärische Rhetorik zwischen europäischen NATO-Staaten und Russland eskaliert, sprechen viele europäische Politiker und »Sicherheitsexpert*innen« weiterhin von »unwahrscheinlichen Szenarien«, »reiner Abschreckungslogik« oder »politischem Säbelrasseln«. Die Gefahr eines Dritten Weltkriegs – erst recht eines nuklear geführten – wird regelmäßig relativiert, verniedlicht oder implizit geleugnet. Diese kommunikative Verharmlosung steht im scharfen Kontrast zu den Planspielen, die Militärs und Strategen seit Jahrzehnten offen diskutieren. Der hier analysierte Text aus der britischen Boulevardzeitung ›Daily Star‹ illustriert anhand einer öffentlich zugänglichen Nuklearsimulation, was ein begrenzter russischer Atomschlag tatsächlich bedeuten würde: kein abstraktes Horrorszenario, sondern konkret berechenbare Massenvernichtung.
Drei Ziele, eine Viertelmillion Tote: Das britische Szenario
Der Daily Star bezieht sich auf eine Simulation mit dem Tool NUKEMAP, entwickelt vom US-Nuklearhistoriker Alex Wellerstein. Grundlage ist ein einzelner russischer nuklearer Gefechtskopf mit einer Sprengkraft von 800 Kilotonnen TNT – mehr als das 50-Fache der Hiroshima-Bombe, der von einer ballistischen Interkontinentalrakete des Typs RS-12M Topol (SS-25) ins Ziel gesteuert wird. Simuliert wird kein flächendeckender Atomkrieg, sondern ein gezielter Erstschlag gegen die drei militärisch bedeutendsten Ziele des Vereinigten Königreichs.
1. Plymouth – Herz der Royal Navy
Plymouth ist der größte Marinestützpunkt Großbritanniens und damit ein zentrales Ziel.
- Sofort-Tote: zirka 133510
- Verletzte: zirka 85830
- Feuerball: Radius 1,28 km (Fläche ≈ 5,16 km²)
- Schwere Zerstörungen (Überdruck): Radius 2,02 km (≈ 12,8 km²)
- Tödliche Strahlung: bis 2,43 km (≈ 18,6 km²)
- Thermische Strahlung (Verbrennungen 3. Grades): bis 9,7 km (≈ 296 km²)
Die grafische Darstellung zeigt, dass die Effekte – insbesondere Druck- und Hitzewellen – weiträumig spürbar wären, mit indirekten Auswirkungen weit über Südwestengland hinaus.
2. Telford – Logistisches Rückgrat des Verteidigungsministeriums
Telford beherbergt mit Donnington eine zentrale Einrichtung des britischen Verteidigungsministeriums für Wartung und Logistik.
- Sofort-Tote: zirka 71350
- Verletzte: zirka 49040
- Langzeitfolgen: Laut Simulation würden zusätzlich rund 15 Prozent der Überlebenden in den Folgejahren an strahleninduzierten Krebserkrankungen sterben.
Der Explosions- und Strahlungseffekt reicht laut Karte bis zur Nordsee; große Teile Mittel- und Nordenglands wären betroffen.
3. Barrow-in-Furness – Nukleares Herz der britischen Abschreckung
Barrow-in-Furness ist der einzige Standort, an dem Großbritannien atomgetriebene U-Boote entwirft und baut – darunter die Trident-Trägersysteme.
- Sofort-Tote: zirka 54060
- Verletzte: zirka 12620
- Leichte bis mittlere Zerstörungen: Radius 10,9 km (≈ 375 km²)
Auch hier würde sich der Explosionsradius bis über die Küste hinaus erstrecken; große Teile Nordenglands wären infrastrukturell schwer beschädigt.
Die Gesamtbilanz: Begrenzter Schlag, maximale Wirkung
Allein diese drei Detonationen ergäben eine Gesamtzahl von 258920 sofortigen Todesopfern und mehreren Zehntausend Schwerverletzten. Die Anzahl der durch Krebs, Infrastrukturkollaps und medizinische Unterversorgung heimgesuchten Langzeitopfer dürfte in die Hunderttausende gehen. Wichtig ist: Dieses Szenario beschreibt keinen umfassenden Atomkrieg, sondern einen punktuellen, strategisch begrenzten Angriff.
Vorschau: Deutschland unter denselben Bedingungen
Überträgt man die im Daily Star verwendeten Annahmen – einzelne 800-Kilotonnen-Gefechtsköpfe, gezielt gegen militärische Schlüsselstandorte – auf Deutschland, ergeben sich ebenfalls klare, wahrscheinliche Ziele:
- Büchel (Rheinland-Pfalz): Luftwaffenstützpunkt mit etwa 20 stationierten US-Atomwaffen des Typs B61 (max. Sprengkraft 400 kT)
- Ramstein (Rheinland-Pfalz): Zentrales Drehkreuz der US- und NATO-Luftstreitkräfte in Europa.
- Wilhelmshaven oder Kiel: Zentrale Standorte und Häfen der Deutschen Marine an Nord- und Ostsee.
Alternativ bzw. zusätzlich: Berlin als politisch-strategisches Ziel mit hoher symbolischer Wirkung oder das ›United States European Command‹ (EUCOM) mit Sitz in den Patch Barracks, Stuttgart-Vaihingen.

Mögliche Folgen (grobe Extrapolation)
Bei vergleichbarer Bevölkerungsdichte und Infrastruktur wären pro Ziel realistisch mit 80000 bis 150000 Sofort-Toten (Ramstein/Büchel wegen dichter Besiedlung besonders hoch) sowie Zehntausenden von Verletzten zu rechnen. Würden diese drei militärischen Ziele konkret getroffen müssten innerhalb weniger Stunden zwischen 250000 und 400000 Tote beklagt werden. Langfristig dürften weitere zehn bis 20 Prozent der kontaminierten Menschen durch Strahlenfolgen sterben.
Hinzu kämen massive Sekundäreffekte: Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, Evakuierungen ganzer Bundesländer, kontaminierte Rhein- und Nordseegebiete sowie der faktische Ausfall Deutschlands als handlungsfähiger Staat.
Was der Daily Star – trotz boulevardesker Aufmachung – unmissverständlich zeigt, ist eine nüchterne Wahrheit: Ein »begrenzter« nuklearer Schlag ist kein theoretisches Gedankenspiel, sondern ein Szenario mit klar bezifferbaren, katastrophalen Folgen. Die anhaltende politische Beschwichtigung in Europa steht dazu in einem gefährlichen Missverhältnis. Wer über Abschreckung spricht, ohne über deren reale Konsequenzen zu informieren, betreibt keine Sicherheitspolitik – sondern kollektive Selbsttäuschung.
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