
Die biologische Evolution hat die menschlichen Gehirne darauf getrimmt, Muster zu erkennen und blitzschnell zu reagieren – ein Segen in stabilen, überschaubaren Umgebungen, ein Fluch in einer komplexen, chaotischen Welt. Was einst unser Überleben garantierte, wirkt heute oft wie eine mentale Fessel. Unsere Mustererkennung taugt wenig, wenn technologische Entwicklungen, politische Systembrüche und globale Verflechtungen das Morgen unberechenbar machen. Komplexitätsforscher, wie der US-amerikanische theoretische Biologe Stuart Kauffman, sprechen von einer nicht-linearen, »nicht-ergodischen«¹ Welt, in der die Zukunft selten dem Gestern ähnelt und Zufall das Geschehen prägt.
Der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari betonte in einem Anfang September 2025 geführten Gespräch, dass es ihm als Historiker nicht nur um die Vergangenheit gehe: »Ich bin im Grunde Historiker, aber ein Historiker, der auch über die Gegenwart und die Zukunft schreibt, weil ich denke, dass Geschichte nicht nur das Studium der Vergangenheit ist, sondern das Studium des Wandels – wie sich die Dinge in der Welt verändern«. Dabei gehe es nicht um Vorhersagen: »Ich glaube nicht, dass es möglich ist, die Zukunft vorherzusagen. Aber über die Zukunft nachzudenken, macht es möglich, über die Bedeutung des Hier und Jetzt zu reflektieren – über die Entscheidungen, die wir heute treffen, weil viele dieser Entscheidungen Auswirkungen für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte haben werden«. Für besonders gefährlich halte er die enorme Beschleunigung des Wandels: »Prozesse, die früher Jahrhunderte dauerten, passieren jetzt innerhalb von Jahrzehnten, manchmal sogar innerhalb weniger Jahre. […] Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir wirklich keinerlei Vorstellung, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird«. Früher hätten sich Veränderungen über Generationen erstreckt: »In der Vergangenheit dauerten die großen Veränderungen länger als ein menschliches Leben. […] Aber jetzt beschleunigt sich alles so sehr, dass die Kinder von Menschen, die erst in ihren Dreißigern oder Vierzigern sind, in einer völlig anderen Welt aufwachsen werden als sie selbst«.
Das Beispiel der Militärplanung zeigt die Grenzen klassischer Prognosen: Die größten Beschaffungsprogramme der deutschen Bundeswehr, wie Eurofighter, F-35, FCAS (Mehrzweckkampfflugzeug der sechsten Generation) oder MGCS (Main Ground Combat System) umfassen Investitionen von über 300 Milliarden Euro bis 2041, mit Planungszeiten von fünf bis zehn Jahren und Zeithorizonten von 2026 bis nach 2070. Die Einführung des MGCS ist beispielsweise für die frühen 2040er Jahre vorgesehen. Doch dieses Programm wurde ab 2012 konzipiert, beantwortete also die Verteidigungsfragen von damals, nicht die von morgen. Niemand kann langfristig exakt vorhersehen, welche Fähigkeiten benötigt werden. Diese Planungsunsicherheit betrifft nicht nur die Verteidigung, sondern alle Branchen – von Technologie und Medizin bis Produktentwicklung und Infrastruktur.
Doch wie umgehen mit einer Zukunft, die sich jeder Vorhersage entzieht? Die Antwort liegt im »Zukunftsdenken« (Futures Thinking) – einer Disziplin, die lehrt, über bloße Wahrscheinlichkeiten hinauszugehen und das gesamte Spektrum von Möglichkeiten zu denken. Es gilt, die mentalen Muster der Vergangenheit zu verlernen und sich bewusst für das Imaginieren alternativer Zukünfte zu trainieren. Forscher wie der US-amerikanische Psychologe Philip E. Tetlock zeigen: Wer methodisch Szenarien entwirft, konträre Standpunkte sucht und sein Urteil mit jeder neuen Information aktiv anpasst, eignet sich jene geistige Beweglichkeit an, die in einer unvorhersehbaren Welt zum entscheidenden Vorteil werden kann.
Prinzipien für das Denken in Zukünften
Praktisch heißt das: Jede Annahme über die Zukunft muss hinterfragt und sichtbar gemacht werden. Der Dialog mit fachfremden und widersprechenden Personen sollte bewusst gesucht werden. Szenarien-Vielfalt ist der Schlüssel – also nicht nur die komfortablen, sondern gerade die irritierenden und unwahrscheinlichen Alternativen denken. Und schließlich: In diesen Szenarien konsequent fragen, wie man wirklich handeln würde, welche Zwänge wegfielen und welche Chancen sich auftäten.
Fazit: Mental flexibel ins Unbekannte
Der Paradigmenwechsel von linearer Planung hin zu mentaler Agilität verändert die Vorbereitung auf Unbekanntes grundlegend. Wer sich darin übt, Annahmen zu identifizieren, Unsicherheit produktiv zu machen und nichtlineare Entwicklungen mitzudenken, schärft mehr als sein Urteilsvermögen. Er wird zum handlungsfähigen Pionier in einer Welt, deren größte Konstante der Wandel ist. Das ist die neue Kunst des »Zukunftsdenkens« – und sie entscheidet womöglich, wer morgen führend bleibt.
¹Der Begriff ergodisch beschreibt in der Statistik einen Prozess, bei dem der zeitliche Durchschnitt einer einzelnen Trajektorie dem Durchschnitt über alle möglichen Trajektorien (dem Ensemble-Durchschnitt) entspricht. Das bedeutet, dass sich das System im Laufe der Zeit so verhält, als würde es alle möglichen Zustände gleichmäßig durchlaufen.
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